In den frühen Morgenstunden des 15. Juni 2023 ist unser Genosse Thomas in Kurdistan gefallen. In der Region Xakurke, mit an den vordersten Verteidigungslinien der kurdischen Befreiungsbewegung, griff seine Einheit Teile der türkischen Besatzungsarmee an. 15 Minuten später, nachdem sie dem Feind schwere Verluste zugefügt hatten, zogen sich die Kämpfer:innen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (HPG) zurück.
Als die türkische Armee begriff, dass ihre Einheit völlig aufgerieben war, ließen sie das gesamte Gebiet mit schweren Geschützen und Kampfjets beschießen. Eine der Bomben traf die Kämpfer:innen und riss Thomas zusammen mit seinen Freund:innen Asya Kanîres (Kadriye Tetik) und Kocer Medya (Diyako Saîdî) in den Tod.
Wir kannten Thomas als einen wunderbaren Menschen, aufrechten Genossen, wahren Freund und unermüdlichen Kämpfer. 2014 begann er sich in Ingolstadt nahe seinem Heimatdorf antifaschistisch und revolutionär zu engagieren. Er wurde dort Teil der revolutionären Gruppe „La Résistance“ und organisierte unermüdlich Kämpfe zu verschiedenen politischen Themen. In den Jahren 2014 & 2015 beteiligte er sich an Aktionen rund um den Antikriegstag und schon damals sorgte er dafür, dass nachts Bundeswehrpropaganda und Militärfahrzeuge mit Farbe und Schlagwerkzeugen angegriffen wurden. Der vielfältige Kampf gegen imperialistische Kriege, deren Ursache und deren Auswirkungen zog sich wie ein roter Faden durch sein politisches Leben. Er war Teil des Versuchs im „Friedenswinter“ 2014/15 die Friedensbewegung davor zu bewahren nach Rechts abzudriften, half uns im Februar 2015 bei der Organisierung der Proteste gegen die sogenannte „Münchner Sicherheitskonferenz“, kämpfte mit uns militant in den vordersten Reihen gegen den Gipfel der G7 in Garmisch-Partenkirchen und stand mit uns zum Schutz vor Geflüchteten-Unterkünften. Nach dem Massaker in Pirsûs (tr. Suruc) zog er zusammen mit 250 Menschen durch die Ingolstädter Innenstadt und rief zur Solidarität mit den Kämpfen in Kurdistan auf.
Thomas erlebte auch den Beginn des weltweiten Rechtsrucks hautnah mit, als in seinem Nachbardorf Faschist:innen einen Brandanschlag auf eine Geflüchteten-Unterkunft verübten, als rechte Bürger:innenbewegung anfingen gegen Moschee-Neubauten zu hetzen und sich die AfD gründete. Thomas hat nie gezögert sich all dem aktiv entgegen zu stellen. Wann immer er auf Ungerechtigkeit und Unterdrückung aufmerksam wurde, hat er gehandelt. Keine Uhrzeit war zu spät um NPD und AfD Plakate zu entfernen, keine Wand zu klein um sie mit Parolen und Stickern zu verschönern und keine Gegner:innen zu groß um sich ihnen in den Weg zu stellen. Noch 2016, als er sich der kurdischen Bewegung anschloss, beteiligte er sich am Widerstand gegen den Aufmarsch des III. Wegs in Ingolstadt zusammen mit hunderten Antifaschist:innen aus ganz Bayern. Er erkannte, dass Parolen allein die Faschist:innen nicht aufhalten wird und baute zusammen mit Genoss:innen Barrikaden, um ihnen den Weg zu versperren. Nicht nur seine Entschlossenheit in der politischen Arbeit blieb in Erinnerung, vor allem mit seiner lebensfrohen Art prägte er die Menschen um ihn herum.
Er war erfüllt von einem großen Gerechtigkeitsempfinden und Liebe zu allen Unterdrückten. Diese Charakterzüge waren es auch, die ihn nach Kurdistan führten. Im Frühjahr 2016 reiste er zu den Newroz-Feierlichkeiten nach Nordkurdistan. Die Trümmerfelder von Amed-Sûr, wo die türkische Armee noch Wochen vorher aufständische Jugendliche der YPS massakriert hatte, die Berichte der Überlebenden des Bombenattentats in Pirsûs und die ganz reale Erfahrung der Besatzungsmacht Türkei in Kurdistan, berührten ihn tief in seinem Herzen und als er von der Reise zurück kam, blieb schon ein Teil von ihm in Kurdistan.
Doch mehr noch als das Erleben der Gräueltaten, war es das revolutionäre Projekt – die praktische Umsetzung einer revolutionären Idee, ein ganzes Volk im Kampf – das ihn tief beeindruckt hat. In Diskussionen darüber, was für Revolutionär:innen in diesen Zeiten der richtige Ort zum Kämpfen sei, traf er eine Entscheidung, die hohen Respekt verdient. Es bedeutete aber auch, dass er seinen Platz und seine Aufgabe nicht mehr hier sah. Nicht mehr darin, den revolutionären Prozess im Herzen der imperialistischen Bestie weiterzuentwickeln und die Verbindung zu revolutionären Entwicklungen in anderen Teilen der Welt als Teil des Kampfes im eigenen Land zu verstehen. Hier unterschieden sich unsere Ansätze. Uns einte jedoch das Bewusstsein, dass für eine Befreiung der Welt auch weltweit gekämpft werden muss, dass es die Aufgabe von Revolutionär:innen ist, in den verschiedenen Formen des Klassenkampfes Verantwortung zu übernehmen. Es gilt herauszufinden wo die Widersprüche des Kapitalismus am besten vertieft werden können, um reale Gegenmacht zum herrschenden System zu entwickeln.
Den Platz, den er einnehmen wollte, war für ihn da, wo die Kämpfe am weitesten entwickelt sind. Die Solidarität und Opferbereitschaft des kurdischen Volkes angesichts eines brutalen gegnerischen Regimes inspirierte ihn. Er fand dort Menschen, die unermüdlich solidarische Strukturen und ein Miteinander schufen, das ganz anders war und ist, als das Zusammenleben in den kapitalistischen Staaten Mitteleuropas mit seiner Individualisierung und der schon im Kindergarten und Schule eingeimpften Konkurrenz. Er sah in den Bergen Kurdistans eine Möglichkeit völlig und ganz im revolutionären Kampf aufzugehen, frei von den Zwängen eines imperialistischen Zentrums wie der Bundesrepublik Deutschland. Eine Perspektive, sein Leben ganz dem zu widmen, was ihn hier immer ruhelos gelassen hatte: das praktische Erproben einer anderen Gesellschaftsordnung und der kompromisslose Kampf dafür.
Als er sich schließlich der Guerilla anschloss und sich den Kampfname Azad Şerger gab, war es keine Flucht vor den Verhältnissen hier und keine Suche nach einer neuen Wahrheit. Er war auf der Suche nach einer Ernsthaftigkeit in den Kämpfen, die er in der deutschen Linken nicht fand. In einem Brief an seine Freund:innen und Genoss:innen in der alten Heimat schrieb er aus den Bergen: „Dass wir die Vernichtung, die von unserem Boden aus organisiert wird, und welche von Anderen auf fremden, fernen Böden ausgeführt wird, nur zusammen, also gemeinsam vereint zerschlagen können. Nicht nur international vereint, sondern auch in einer Front mitten unter uns. Dass wir uns nicht mehr in sinnlose Flügelkämpfe und Streitereien verstricken dürfen. Denn wer das macht, der/die wird doch nur wieder den wahren Feind und unser Ziel im Dunstschleier der kapitalistischen und imperialistischen Maximierung und Verwertung aus den Augen verlieren. Der/die wird doch nur wieder sich unter das kapitalistische Kommando fügen welches uns, das Subjekt, im Liberalismus erstickt und tötet.“
Und diese Ernsthaftigkeit blieb er niemandem schuldig. Seine kurdischen Genoss:innen beschrieben ihn als jemanden, der unermüdlich den Kampf weiter entwickeln wollte, der wissbegierig lernte und selbst lehrte, der allen ein guter Freund war, sich vor keiner Aufgabe drückte und für sich selbst den Platz an vorderster Front wählte. Sein Name „Azad“ bedeutet Freiheit, „Şerger“ soviel wie Kämpfer und Suchender. So treffend wie er sich selbst, hätte ihn wohl niemand anderes beschreiben können. Azad Şerger hat für den Kampf um die Befreiung des Menschengeschlechts Unvorstellbares geleistet, und am Ende den höchsten Preis dafür gezahlt. Sein Tod reißt seine Familie, seine Freund:innen und Genoss:innen in tiefe Trauer. Mit ihm wurde uns als revolutionärer Bewegung einer unserer mutigsten Kämpfer genommen.
Şehîd namirin – in unseren Kämpfen sind die Gefallenen unsterblich – ist nicht nur eine Parole zum Gedenken, es ist auch ein Auftrag. Ein Kern dieses Auftrags ist die Verbindung zu internationalen Aufständen und Kämpfen der Ausgebeuteten und Entrechteten. Und zum revolutionären Prozess in Kurdistan im Besonderen. Diese Orientierung eröffnet uns, unabhängig vom Stand der Kämpfe in Deutschland, einen Zugang zur Aktualität der Revolution.
Der Internationalismus, der sich daraus ergibt, ist vielschichtig: Lernen von verschiedenen Kampfformen und Ansätzen von Gegenmacht, politische Mobilisierungen, um auf die weltweiten widerständigen Lichtblicke aufmerksam zu machen und sie zu verteidigen, die Suche nach konkreten Möglichkeiten zur gegenseitigen Hilfe und nicht zuletzt auch die direkte Beteiligung an den Kämpfen. Die internationalen Bewegungen gegen den Kapitalismus sind verschieden und unterschiedlich weit entwickelt. Es liegt an uns, sie miteinander zu verbinden, und genau diese Verschiedenheit als Motor zu nutzen, um den Widerstand gegen den international organisierten Kapitalismus an allen Fronten zu stärken.
Unser wichtigster Ansatzpunkt um den Kampf in Kurdistan zu unterstützen und eine internationalistische Bewegungen hierzulande aufzubauen, ist der Kampf gegen die Kooperation der Herrschenden in Deutschland und in der Türkei. Der Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung ist nicht regional beschränkt. Auch wenn die Türkei in jeder Hinsicht federführend ist, beteiligen sich weitere Kräfte daran, das regionale Projekt einer befreiten Gesellschaft im Keim zu ersticken, bevor es zum Vorbild für Andere wird. Die Wirtschaft des AKP-Regimes wird mit Geld aus dem Westen über Wasser gehalten, die türkische Armee ist zweitgrößte NATO-Kraft und wird durch US-Aufklärung unterstützt, die Munition für diesen Krieg wird in den Fabriken hier bei uns produziert, die Kriegstechnologie, von den Drohnen bis hin zum Giftgas, stammt aus dem Westen. Wollen wir den Freund:innen in Kurdistan eine Hilfe sein, dann heißt das, diese Kooperation anzugreifen, genauso wie die dreckigen Flüchtlings-Deals der EU mit der Türkei und die Kriminalisierung linker Oppositioneller aus der Türkei durch deutsche Behörden. Und wollen wir, dass der Kampf um die Befreiung in Kurdistan endgültig gewonnen wird, dann ist das nicht nur eine Frage des Kampfes zwischen reaktionären und revolutionären Kräften im Nahen Osten, sondern auch eine Frage von Klassenkämpfen und revolutionärer Gegenmacht in der NATO, in der EU, und für uns besonders in Deutschland. Ein Auftrag an uns, hier und heute. Um es mit Thomas Worten zu sagen: „Jetzt ist die Zeit, in der wir dem Feind zeigen müssen, wo es lang geht!“
Zur Situation im Krieg der Türkei gegen die kurdische Befreiungsbewegung Nach dem katastrophalen Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet am 6. Februar diesen Jahres haben die Volksverteidigungseinheiten Kurdistans eine Feuerpause im Krieg gegen den türkischen Staat verkündet. Guerilla-Aktionen, die über Selbstverteidigung hinausgehen, wurden eingestellt, um die Hilfe und Versorgung der betroffenen Bevölkerung nicht zu gefährden. Der türkische Staat hat nicht nur die zehntausenden Opfer in der für Erdbeben bekannten kurdischen Region durch jahrzehntelange Vernachlässigung der Infrastruktur und unterlassene Hilfeleistung im Nachhinein bewusst in Kauf genommen. Er hat seine militärischen Aktionen gegen die kurdische Bewegung und Zivilbevölkerung ohne Pause und ungeachtet der von den Volksverteidigungskräften verkündeten Feuerpause weitergeführt. Auch die Verlängerung der Feuerpause zu den türkischen Parlamentswahlen, um eine Konzentration auf politische Lösungen der Kurdistan-Frage zu ermöglichen, wurde vom türkischen Staat mit weiteren Angriffen beanwortet. Boden- und Luftangriffe, Drohnenkrieg, Einsatz chemischer Waffen, gezielte Exekutionen politischer Repräsentant:innen und Vertreibungspolitik: Die Türkei weitet den Krieg in Nord-, Süd und Westkurdistan weiter aus. Nach der politischen Neutralisierung der relativ starken bürgerlichen Opposition, durch die gewonnenen Wahlen, setzt das Regime nun offensichtlich seinen Kurs fort, die verheerende ökonomische Krise im Innern der Türkei (auf die die Regierung mit lediglich kosmetischen Eingriffen reagiert) mit der Intensivierung des Kriegs gegen die kurdische Bewegung, mit nationalistischer Mobilisierung und harter Repression gegen jede noch so schwache Regung (linker) politischer Opposition zu überdecken. Anfang Juni haben die Volksverteidigungskräfte Kurdistans die Feuerpause vor diesem Hintergrund beendet. Sie erklärten, dass sich in den 4 Monaten einseitiger militärischer Offensiven von der Türkei gezeigt habe, dass die einzige Möglichkeit, um zu einer Friedenslösung zu kommen, der Sturz des AKP/MHP-Regimes sei. Und die Türkei ist nicht die einzige Kraft in der Region, die eine Gefahr für das demokratische und multi-ethnische Projekt der kurdischen Befreiungsbewegung darstellt. In den Gefängnissen der Selbstverwaltung in Rojava (Nordostsyrien) sitzen aktuell über zehntausend IS-Dschihadisten – mit dem drohenden Einmarsch der Türkei in das Gebiet und ihrem Ziel, die Selbstverwaltung zu zerstören, wären auch sie mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder auf freiem Fuß und ein politisch-militärischer Faktor in der Region. Es ist keine Geheimnis, dass der türkische Staat islamistische Banden als inoffizielle Streitkräfte in seiner Kriegsführung einbindet. Gleichzeitig attackiert seit kurzem auch das iranische Regime trotz offiziellem Waffenstillstand die ostkurdische Bergregion und zieht Truppen in Richtung der Guerillagebiete zusammen. Betroffen ist vor allem die lokale Bevölkerung – Waldbrände und die Zerstörung der kleinbäuerlichen Wirtschaft in der Region sind die ersten Folgen. Die Operation in Xakurke in den schwer umkämpften Guerillagebieten in Südkurdistan / Irak, bei der Thomas / Azad Serger gefallen ist, war einer von mehreren erfolgreichen Angriffen, mit denen die Guerilla den türkischen Besatzungstruppen kurz nach Beendigung der Feuerpause erhebliche Verluste zufügen konnte. Die hochprofessionalisierten Guerilla-Einheiten in dieser Region, einem strategischen Zentrum der Befreiungsbewegung, stellen das türkische Militär schon lange vor große Schwierigkeiten. |