Unsere Genossin Inge Viett ist am 9. Mai 2022 gestorben. Sie war Militante der Bewegung 2. Juni und der RAF. Sie lebte einige Jahre in der DDR und verteidigte diesen sozialistischen Versuch, im vollen Bewusstsein seiner Unzulänglichkeiten, gegen die Diffamierungen der Sieger. Sie war ein Mensch der selbst strauchelte, aber nie fiel. Ob als Teil der bewaffneten Organisationen, aus dem Gefängnis oder beim Versuch der Re-Organisation der revolutionären Bewegung: Inge war nie nur Beobachterin, ihre Analysen entstanden in den Kämpfen, deren Teil sie stets war. Mit ihrem klaren politischen Kompass, mit ihrer Fähigkeit den Kern der Dinge zu erkennen und zu benennen und dem Herzblut, dass sie immer bereit war zu geben, war sie orientierungsgebend für eine neue Generation von Kommunist:innen. Trotz aller Brüche kämpfte sie ihr Leben lang – als proletarische Frau, als militante Kommunistin.
Inge hat ein volles Leben, ein Leben als Revolutionärin geführt. Wir sind ein Stück ihres Weges mit ihr gegangen. Unsere Erfahrungen mit ihr sind notwendig begrenzt, und werden weder ihrem persönlichen Leben, noch ihrem Wirken als Revolutionärin wirklich gerecht. Dennoch waren die Erfahrungen die wir mit Inge gemacht haben prägend. Sie hatte eine Bedeutung für uns und eine objektive Funktion für viele unserer Generation, die sich dem Wiederaufbau einer kommunistischen Bewegung widmen. Im folgenden einige Fragmente dieser, ihrer Bedeutung für uns:
Zuerst, Inge erlebte und gestaltete viele Etappen des revolutionären Prozesses in diesem Land. Der Aufbruch von 1968, der bewaffnete Kampf, die DDR. Die historische Offensive von 68 konnte sich nicht durchsetzen, der bewaffnete Kampf in den Metropolen fuhr sich fest, der Sozialismus ging letztlich schmählich unter. Desorientierung und Resignation in der Linken, bis weit in ihren revolutionären Teil, waren die Folgen die wir bis heute spüren.
Trotz all dieser Niederlagen, trotz aller Brüche, trotz aller Strukturen die wegbrachen, aller GenossInnen die sich zurückzogen und trotz Angriffen auf ihre Integrität, blieb Inge Revolutionärin, blieb militante Kommunistin. Und das nicht nur ihrer Haltung nach, nicht nur ideologisch auf dem Richtigen beharrend, sondern in ihrer Praxis. Sie blieb organisierte Kommunistin, als Teil der kollektiven Suche nach dem revolutionären Weg.
Warum das wichtig ist? – Es ist eine wesentliche Krankheit der kommunistischen Bewegung in Deutschland, dass es kaum Kontinuität, kaum Verbindung zwischen den unterschiedlichen Generationen von Kämpfenden gibt. Erfahrungen werden selten organisch, das heißt in den Kämpfen in denen sie gebraucht werden, weitergegeben, Fehler wiederholen sich von Generation zu Generation…
Inges Kontinuität wirkte auf uns als Gegenmittel. Sie gab Erfahrung weiter und stellte uns einen wesentlichen Teil der revolutionären Geschichte dieses Landes zur Verfügung. Sie sprach offen über die Schwächen vergangener Versuche, ohne jemals defätistisch zu werden, immer ihre revolutionäre Legitimität verteidigend. Nicht zuletzt bewirkte diese Form der Kontinuität die sie verkörperte, auch in uns mehr Ernsthaftigkeit.
Aber Inge war nicht nur eine der wenigen aus den 70er Jahren, die für uns, für eine Auseinandersetzung über die Geschichte des bewaffneten Kampfs verfügbar war. Sie war auch eine der noch wenigeren, die sich um die politische Bewertung dieser Geschichte bemühte und zwar in dem Sinn, diese Geschichte für revolutionäre Bewegung, genauer, für revolutionäre Organisation heute nutzbar zu machen. Und diese Position, aus den radikalen Kämpfen der 70er Jahre kommend, im Sozialismus gelebt, die politische und persönliche Niederlage, überstehend, um dann als organisierter und organisierender Teil in einem neuen Anlauf kommunistischer Organisation zu wirken, diese Position, machte sie für uns unverzichtbar.
Unverzichtbar – das sei an dieser Stelle erwähnt – trotz der persönlichen Schwäche, die sie im Angesicht der Niederlage an einem Punkt gezeigt hat und von der manche meinten, sie sei auf eine Art Teil ihrer politischen Identität. Gemeint ist eine Aussage die sie nach ihrer Verhaftung gegenüber dem Klassengegner getätigt hatte. Ein Fehler, den sie als solchen eingeräumt hat. Unverzichtbar gerade wegen ihrer selbstkritischen, vor allem aber auch politischen Bewertung dieser Schwäche. Weil es uns nicht um moralische Reinheit, nicht um unbefleckte Heldenverehrung geht, sondern um den Umgang mit Fehlern angesichts der Konfrontation mit der Repression – der Repression die solche Schwächen eben leider auch produziert.
Inge hat noch auf andere Weise Bedeutung für uns gehabt. Sie verfügte über eine analytische Klarheit die oft fehlt. Sie besaß die Fähigkeit den Kern der Dinge herauszuarbeiten und ihn verständlich, nicht in politische Phrasen verpackt, zu benennen. Das tat sie selten abstrakt, sondern meist zielgerichtet auf die Notwendigkeiten die sich aus dem Projekt des revolutionären Aufbaus ergeben. Dabei sprach sie auch Punkte an, die nicht dem linken Mainstream entsprechen, und auch über den Konsens und die übliche Praxis kommunistischer Organisationen hinausgehen: So umriss sie die unmittelbar anstehenden Aufgaben und den Charakter einer kommunistischen Organisation auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2011 so:
„Es ist eine strategische Herausforderung, die ökonomischen Kämpfe in den Betrieben und die Vielfalt der außerbetrieblichen Kämpfe politisch/organisatorisch zu verbinden und auf eine kommunistische Perspektive zu richten. Das erfordert bewegliche und trotzdem disziplinierte Strukturen, das erfordert einen dialektischen Umgang mit Widersprüchen, die nur über eine gemeinsame kämpferische Praxis, aber nicht im ideologischen Papierkrieg aufhebbar sind, und das erfordert auf bestimmter Ebene Klandestinität gegenüber dem Klassengegner.
Eine Organisation oder Partei, kann zwar fortschrittlich, antikapitalistisch, marxistisch/leninistisch sein, aber nicht revolutionär, wenn sie nicht in bestimmten Bereichen (Kommunikation, Strukturen, Verantwortlichkeiten) klandestin ist.
Das ist eine logische, absolut notwendige Konsequenz, wenn wir ernstnehmen, was wir wissen: die Konzeption des staatlichen Sicherheitsapparates in Deutschland und die sogenannte gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur sind in ihrer Vollendung auf totalitäre Herrschaftssicherung aus.“
In einem anderen Vortrag von 2007 begründet sie diese Feststellung so:
„Die Bourgeoisie und ihr ökonomisches Raubsystem, werden immer mit all ihren Machtmitteln, ihren Gesetzen, ihrem tiefgestaffelten Repressionsapparat, ihrem Militär, ihren Medien und ihrer ideologischen Dominanz alle angreifen, die beginnen eine Perspektive jenseits des Kapitalismus zu erkämpfen. Darauf haben wir uns einzustellen.“
Diese Position zeigt zweierlei: Indem sie richtigerweise nicht nur die aktuelle, sondern auch die kommende Repression – die unweigerlich eintritt, wenn sich die Klassenkämpfe zuspitzen – in den Aufbau proletarischer Gegenmacht mit einbezog, zeigte sie eine Ernsthaftigkeit bezogen auf die eigenen Ansprüche, die in der deutschen Linken oft fehlt. Sie bewies so aber auch einen erfrischenden historischen Optimismus: Es gibt keinen Grund vor der kapitalistischen Totalität den Kopf in den Sand zu stecken, vor der ideologischen oder polizeilichen Übermacht zu kapitulieren! Wo es nötig ist, werden wir auch schwierige Wege finden.
Bei all dem bleibt uns Inge als Genossin in Erinnerung, die ihre Positionen nicht einfach am Schreibtisch entwickelte, sondern sich um einen kollektiven Prozess bemühte. Wobei sie immer wieder auf argumentative Schwächen verwies und genau in der Anwendung der marxistischen und leninistischen Methode blieb. Diese Genauigkeit war das Gegenteil von Dogmatismus, bekämpfte aber jede Form der Beliebigkeit.
Sie bleibt uns auch in Erinnerung, als eine die versuchte den revolutionären Prozess auf allen Ebenen ganz praktisch zu stärken. Die sich nicht zu schade war für bestimmte Tätigkeiten, die mit den Menschen in Kontakt trat, die Flugblätter verteilte und sich auch wenn Konfrontationen mit Bullen absehbar waren mit über 70 noch einreihte. Meist mit einem Lachen und einem lockeren Spruch auf den Lippen.
Sie bleibt uns in Erinnerung, als Genossin die immer bereit war ihr Herzblut zu geben, die dabei nicht kleinlich und verbissen wurde, sondern immer Wärme und Empathie ausstrahlte.
Inge, in unseren Kämpfen lebst du weiter!
Zum Abschluss ein paar Worte von Brecht, von denen wir denken, dass sie auf Inge passen:
„Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang. Die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese sind unentbehrlich.“
Inge kämpfte ihr Leben lang, Inge war unentbehrlich.
Perspektive Kommunismus, Mai 2022
Hier einige Materialien zu Inge:
Der Revolutionäre Aufbau Schweiz hat eine Broschüre mit einigen Texten Inge’s erstellt. Viele dieser Texte halten wir immer noch für wegweisend:
Textsammlung Inge Viett
Audio-Mitschnitt der Veranstaltung Revolutionäre Strategien in der Krise vom 7.Mai 2016 in Stuttgart (hier).
Grußwort von Bertrand Sassoye, ehemaliger Militanter der beglischen Stadtguerilla Cellules Communistes Combattantes (CCC) zur Trauerfeier
Bücher von Inge:
Einsprüche! Briefe aus dem Gefängnis. Edition Nautilus, Hamburg 1996
Nie war ich furchtloser. Autobiographie. Edition Nautilus, Hamburg 1997
Cuba libre bittersüß. Reisebericht. Edition Nautilus, Hamburg 1999
Morengas Erben. Eine Reise durch Namibia. Edition Nautilus, Hamburg 2004